Nicht immer sind Fotoalben nur eine Geschichte der Familie. Manchmal spiegeln sie auch Stadtgeschichte wider. Genauso ging es NB-Leserin Hannelore Heinrich. Vor einigen Wochen wandte sich die 83-Jährige an die Redaktion. In ihrem Besitz: Fotos und Zeitungsausschnitte des Schwiegervaters.
Der hatte in der Zeit des Nationalsozialismus Karriere gemacht. Seine Erinnerungen: eine einzige Huldigung an das Dritte Reich. Kein einfaches Erbe für die alte Dame aus dem Heidberg und dennoch für die Stadt von Wert, wie Henning Steinführer, Leiter des Stadtarchivs, erklärt. Gemeinsam mit Hannelore Heinrich sichtete er jetzt das Material.
„Die Tasche ist schwerer als gedacht“, schnauft Hannelore Heinrich, als wir sie an diesem frühlingshaften Dienstag vor dem Eingang des Braunschweiger Stadtarchivs treffen. Im roten Stoffbeutel der zierlichen, weißhaarigen Frau befinden sich Fotoalben und Erinnerungen ihres Schwiegervaters aus der Zeit des Nationalsozialismus.
Es ist keine Sammlung kritischer Schriften oder Zeugnis einer Widerstandsbewegung – ganz im Gegenteil. Der Vater ihres verstorbenen Mannes war ein überzeugter Nationalsozialist, seine Aufzeichnungen eine Huldigung Hitlers. „Schlimm“ gibt die 83-Jährige zu. Dennoch war sie nicht sicher, was sie mit den Erinnerungsstücken anfangen sollte. Behalten wollte sie sie nicht, wegwerfen oder schreddern schien ihr ebenfalls nicht richtig. „Wir haben keine Kinder und niemanden, den es interessieren könnte.“ So zeigt sie die Unterlagen nun Henning Steinführer, der das Braunschweiger Stadtarchiv leitet.
Aufgabe des Archivs ist es, stadtgeschichtlich bedeutende Unterlagen und Dokumente sorgfältig aufzubewahren und sie der Forschung und Interessierten zugänglich zu machen. Kirchenurkunden, städtische Akten, Meldekarteien und Stadtpläne zählen ebenso dazu wie Zeitungen, Bilder, Schriften und Plakate. Fast 10 000 Urkunden werden in den Archivkammern des Schlosses aufbewahrt, die Akten sind aneinandergereiht sieben Kilometer lang.
Drei Alben voller Fotos, Zeitungsausschnitte, Briefe, Wurfzettel und Liedtexte, Ausweise, Urkunden und Medaillen sind es, die Hannelore Heinrich nun auf dem Tisch des Archivleiters ausbreitet. „Mein Mann wollte immer wissen, was für ein Mensch sein Vater war.“ Die Schwarz-Weiß-Fotos in den Alben sprechen eine klare Sprache: Es sind Bilder aus Braunschweig, dem Kreis Gifhorn und dem Harz. Die Szenen zeigen Versammlungen, Feiern und Truppenübungen aus der Zeit des Nationalsozialismus, teilweise beschriftet. Auch Hitler ist auf einigen zu sehen. „Furchtbar“ entfährt es ihr beim Betrachten.
Die meisten Aufnahmen wirken wie Schnappschüsse, vermitteln einen direkten Eindruck dieser dunklen Zeit. „Ich war noch zu jung, um davon berichten zu können“, sagt die Seniorin. Aber ihr Schwiegervater war es nicht: Wilhelm Heinrich, geboren 1906, war gelernter Kaufmann, bevor er 1932 der NSDAP beitrat, SA-Standartenführer und später Obersturmbannführer in Braunschweig wurde. „Man wird kaum eine Familie finden, in deren Geschichte es nicht begeisterte Anhänger des Nationalsozialismus gab“, stellt Henning Steinführer nüchtern fest.
Dennoch hegt Hannelore Heinrich die leise Hoffnung, dass Wilhelm erkannt hat, was der Nationalsozialismus in Wirklichkeit ist – eine totalitäre, rückständige und menschenverachtende Ideologie. Anzeichen dafür gibt es, glaubt Heinrich. Etwa, dass Wilhelm sich für den Kriegseinsatz an vorderster Front meldete, obwohl er sich aufgrund seiner Kommandohöhe nicht in eine solche Gefahr hätte begeben müssen. „So ist er dem aus dem Wege gegangen“, vermutet die 83-Jährige. „Er konnte ja schlecht sagen: Ich mach‘ nicht mehr mit.“ „Das ist in der Tat eher ungewöhnlich“, bestätigt Steinführer. „Aber es ist auch der Grund, warum wir die Alben heute angucken können. Hätte er die NS-Zeit überlebt, hätte er hinterher alles vernichtet.“ Wilhelm Heinrich ist 1941 im Alter von 35 Jahren in Russland gefallen.
Für den Archivar ist klar, dass die Alben von zeithistorischer Bedeutung sind: „Es sind schwierige Unterlagen, aber sie gehören zur Geschichte dazu.“ Wichtig sei jedoch die kontextualisierte Einordnung: Losgelöst von den biografischen Daten des Menschen, der die Sachen zusammengetragen hat, gehe es nicht. Weil der Inhalt der Alben sich auf Braunschweig und die Region bezieht, der Schwiegervater ein wichtiger Funktionsträger der zahlreichen NS-Organisationen in der Stadt war und einige der Dokumente Seltenheitswert besitzen, sind sie für das Stadtarchiv interessant.
Steinführer bereitet einen Vertrag vor, der die unentgeltliche Überlassung des Materials an das Archiv dokumentiert und regelt, ob es für die Stadtgeschichtsforschung künftig öffentlich einsehbar sein soll. „Ich bin froh, jemanden gefunden zu haben, der das Zeug brauchen kann“, sagt die Seniorin und unterschreibt. „So erfüllen die Sachen noch einen Zweck.“ Steinführer holt einen grauen Pappkarton hervor. Als Hannelore Heinrich die schweren Fotoalben hineinlegt und den Deckel schließt, scheint sie erleichtert. So als wäre eine große Last von ihr abgefallen.
Wer interessante Unterlagen hat oder Einsicht in historische Dokumente nehmen möchte, kann sich an das Stadtarchiv wenden. Infos unter www.braunschweig.de, Stichwort: Stadtarchiv.