3. März 2023
Stadtplanung

„Ein günstiger ÖPNV allein reicht nicht“

Beim Thema Verkehrswende sind die Ingenieure der WVI GmbH aus Braunschweig mit im Boot • Ein Interview

Der Verkehrsknotenpunkt Bahnhof Gliesmaroder Straße, Blickrichtung Innenstadt, aus der Vogelperspektive. Foto: Stefan Lohmann/regios24

Die Datenmengen, mit denen sie ihre Rechner füttern, sind gigantisch. Ob Hagenmarkt, Autobahnkreuz Süd oder der große kommunale Wurf mit dem Bandwurmnamen „Mobilitätsentwicklungsplan – die Ingenieure der WVI Prof. Dr. Wermuth Verkehrsforschung und Infrastrukturplanung GmbH, kurz WVI, sind immer dann da, wenn es darum geht, Verkehrsplanungen auf Herz und Nieren zu überprüfen. Ein Gespräch mit Geschäftsführer Dr.-Ing. Tobias Wermuth und dem Verkehrsplanungsfachmann Dipl.-Ing. Manfred Michael.

Was ist die WVI GmbH?

Manfred Michael: Die WVI beschäftigt sich seit über 30 Jahren mit dem Thema Mobilität – vom Fußverkehr über den Rad- und Autoverkehr bis hin zum ÖPNV. Die Frage warum, wie und wann sich Menschen von A nach B bewegen, wird für Städte in Zeiten des Klimawandels immer wichtiger. Zusammen mit ihnen und wissenschaftlichen Partnern entwickeln wir deshalb Masterpläne und Beteiligungskonzepte, die helfen, die Verkehrswende umzusetzen und die Menschen auf dem Weg dahin mitzunehmen.

Tobias Wermuth: Wir beraten auch zu Tarifentwicklungen und der Frage, wie sich der ÖPNV in Zukunft finanzieren lässt. Häufig wird ja die Ansicht vertreten, nur ein billiger ÖPNV sei ein guter ÖPNV, doch das greift zu kurz. Viel entscheidender ist es, die Verkehrsmittel optimal untereinander zu vernetzen.

Dr.-Ing. Tobias Wermuth

Verkehrsplanung passiert also nicht aus der hohlen Hand. Wie gehen Sie vor?

Michael: Wir sehen uns zunächst die aktuelle Situation an. Es gibt sehr leistungsfähige Programme, mit denen sich der Verkehr einer Stadt oder einer Region über einen ganzen Tag simulieren lässt. Dafür sind enorm viele Informationen erforderlich, denn Verkehr fällt ja nicht vom Himmel. Verkehr entsteht dort, wo Menschen wohnen, arbeiten, einkaufen, sich erholen. Auch die Mobilitätsangebote und das Mobilitätsverhalten fließen in die Berechnungen ein: Welche Wege legen Menschen mit welchen Fahrzeugen und zu welchem Zweck zurück?
Anhand dieser Informationen versuchen wir den Verkehr möglichst realitätsnah abzubilden, um uns dann der Frage zuzuwenden: Wie soll die Zukunft aussehen? Welche Quartiere sollen entstehen, wie sind sie untereinander vernetzt? Ändern wir diese Parameter, dann wissen wir auch wie sich der Verkehr verändert.

Wermuth: Den Verkehr einer Stadt neu zu denken, ist tatsächlich keine Sache, die sich von heute auf morgen lösen lässt. Es ist ein fortlaufender Prozess, der immer wieder auf den Prüfstand gestellt wird. Oft stehen sich die unterschiedlichsten Interessen gegenüber; hier muss man Kompromisse finden.
Jede Veränderung hat außerdem Auswirkungen auf das Verhalten der Menschen. Nehmen Sie die A2: selbst wenn Sie dort acht Spuren bauten, stünden Sie bald wieder Stau. Fachleute nennen das „induzierter Verkehr“, das heißt jedes zusätzliche Angebot führt zu mehr Aufkommen und nicht zur gewünschten Entlastung.
Dies ist übrigens auch eine spannende Frage beim 49€-Euro-Ticket: Welche zusätzliche Nachfrage (nicht Verlagerung von Pkw auf ÖPNV) erzeugt eine solch günstige bundesweite Flatrate?

Dipl.-Ing. Manfred Michael.

Apropos Stau: Wie sieht der Verkehr in der Region 38 derzeit aus?

Michael: Unsere Region ist stark durch das Auto geprägt, es gibt allerdings einen Unterschied zwischen Oberzentrum und Umland. Im ländlichen Raum werden immer noch 60 bis 70 Prozent der Fahrten mit dem Pkw unternommen, in Braunschweig dagegen wird das Fahrrad immer beliebter, läuft sogar dem ÖPNV den Rang ab. Mittlerweile werden auch viele Anstrengungen unternommen, um den Radverkehr und den ÖPNV attraktiver zu machen. Die Stadt Braunschweig arbeitet intensiv am Ausbau des Stadtbahnnetzes. Für den Regionalverband Großraum Braunschweig haben wir zusammen mit Partnerunternehmen ein „Regionales Radverkehrskonzept“ entwickelt, Bahnhaltepunkte werden saniert oder reaktiviert. Die größten Defizite liegen im Moment noch bei den Radverbindungen „über Land“. Hier fehlen separate Radwege und Radschnellwege.

In die Zukunft gedacht: Wie wird Mobilität, wie werden die Städte aussehen? Gibt es gute Beispiele?

Wermuth: Ich persönlich finde gerade die Entwicklung in Barcelona spannend. Dort versucht man mit so genannten „Superblocks“ komplett autofreie Quartiere zu schaffen, in denen Fußgängern deutlich mehr Platz eingeräumt wird. Wobei dies keine flächendeckende Lösung ist, sondern nur für bestimmte Quartiere. Denn auch hier müssen Menschen und Waren ankommen können.

Michael: Bei einem gut vernetzten Verkehr werden wir in Zukunft auch deutlich flexibler unterwegs sein. Wir bewegen uns dann nicht mehr monomodal vorwärts – zum Beispiel ausschließlich mit dem Auto – sondern mit vielen unterschiedlichen Verkehrsmitteln. Wie rasch sich dieses Szenario umsetzen lässt, hängt auch von der Politik ab. Wir haben am Beispiel des 9-Euo-Tickets gesehen, wie sich mit einer entsprechenden Förderung die Wahl des Verkehrsmittels lenken lässt.

Und das ist erst der Anfang. Ich bin mir sicher, dass das autonome Fahren Verkehr und Städte noch einmal grundlegend verändern wird. Vielleicht ziehen die Menschen wieder aufs Land, weil sie keine Verlustzeiten mehr durchs Autofahren haben und ihre E-Mails gleich auf dem Weg zur Arbeit checken können. Vielleicht entstehen auch neue soziale Brennpunkte, weil reichere Eltern ihre Kinder einmal quer durch die Stadt in andere Schulen schicken. Mobilität bleibt in dieser Hinsicht ein hochspannendes Thema …

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