16. April 2015
Kulturelles

Ein Herz für die Ausständigen dieser Gesellschaft

Der Schauspieler und Sänger Ben Becker liest am 10. Mai im Großen Haus des Staatstheaters aus Ernst Haffners Cliquenroman „Blutsbrüder“.

Ben Becker während einer „Blutsbrüder“-Lesung in Leipzig. Foto: Kerstin Groh/oh

Von André Pause, 16.04.2015.

Braunschweig. Vor zwei Jahren hat Ben Becker die literarische Wiederentdeckung „Blutsbrüder“ von Ernst Haffner als Hörbuch eingelesen. Aus dem Berliner Cliquenroman schälte der Schauspieler und Sänger jetzt einen rund zweistündigen Leseabend. Am 10. Mai (20 Uhr) liest Becker im Großen Haus des Staatstheaters. André Pause hat sich mit ihm unterhalten: über die Blutsbrüder, anhaftende Vorurteile und weitere aktuelle Projekte.

? Herr Becker, Sie lesen „Blutsbrüder“ von Ernst Haffner. Ein Berliner Cliquenroman, der mehr als 80 Jahre als verschollen galt.

! Komischerweise, weil man die meisten literarischen Geschichten aus der Weimarer Zeit ja irgendwie ziemlich schnell wiedergefunden hat. Weiß der Teufel, warum das bei dem Buch so spät der Fall war. Aber: schön, dass er wieder da ist.

? Wussten Sie, bevor das Werk wiederentdeckt wurde und Sie ihm für das Hörbuch Ihre Stimme geliehen haben, dass es diesen Autoren gibt?

! Nein! Woher? Auch jetzt ist über Haffner überhaupt nicht so sehr viel bekannt, außer dass er Streetworker war, sich also tatsächlich um diese Straßenkinder gekümmert hat. Und soweit man bis jetzt weiß, ist Blutsbrüder auch sein einziges Werk.

? Das Buch ist eine packende Milieustudie: aufregend und spannend. Ein in vielerlei Hinsicht gelungenes Buch. Was hat für Sie als Künstler letztlich den Ausschlag gegeben, dass Sie gesagt haben: Das muss ich jetzt machen?

! Straßenkinder haben mich schon immer fasziniert, die fand ich schon immer spannend. Das liegt wahrscheinlich daran, dass meine erste große Liebe ein Zigeunermädchen aus einem Hamburger Heim war. Das ist bei mir irgendwie hängengeblieben. Ich selbst habe ziemlich viele Kurzgeschichten und Songs geschrieben über verlorengegangene Kinder, Geschichten geschrieben über Heimkinder, die am Hamburger Hauptbahnhof rumlungern oder so. Da gibt es Kurzgeschichten, die ich auch vertont oder irgendwie in Texte eingeflochten habe. Ich hatte immer schon ein offenes Herz dafür. Außerdem fühle ich mich in der Zeit irgendwie zu Hause. Man hat mich ja immer wieder in die Weimarer Republik reinversetzt durch Rollen. Ich habe ja auch lange den Franz Biberkopf gespielt, mich lange mit „Berlin Alexanderplatz“ auseinandergesetzt, habe es 80 Mal in Berlin auf der Bühne gespielt und bin dann auch fast 100 Mal mit der Lesung rumgezogen. Da war „Blutsbrüder“ irgendwie eine logische Fortsetzung, so kam mir das fast vor.

? Man bangt da vor allem mit den Protagonisten Willi und Ludwig mit, dass sie einen Ausweg finden, aus diesem durch Armut, Hoffnungslosigkeit und Kriminalität geprägten Milieu. Könnte man das Buch ohne dieses zumindest milde Happy End überhaupt denken?

! Das milde Happy End … Da ist ja auch ein bisschen Homoerotik in dem ganzen Buch, das macht es irgendwie noch einmal spannend. Es geht um Notgemeinschaften. Dass die beiden Burschis da unten in der Schusterwerkstatt sitzen, arbeiten und hoffen, dass sie nicht von der Polizei entdeckt werden, weil der eine keine Aufenthaltserlaubnis hat: Das ist ja nun nicht wirklich ein Happy End. Es wirkt leicht versöhnlich, aber „zwei von Tausenden auf der Landstraße Berlin“ ist der letzte Satz. Da kam bei Herrn Haffner, so journalistisch er das auch angegangen ist, womöglich ein bisschen die Romantik durch. Was aber auch ganz schön zu lesen ist.

? Insgesamt wird jedoch schon recht brutal geschildert, und die Romantik wird der Geschichte doch relativ deutlich genommen …

! Dem einen oder anderen treibt es die Tränen in die Augen.

? Wie bekommen Sie diese Dichte und Dringlichkeit auf die Bühne?

! Ich habe das Buch als Hörbuch eingelesen und wurde dann gebeten, es in Berlin zu präsentieren. Da habe ich mich zum ersten Mal drangesetzt und sozusagen versucht eine eigene Auswahl zu schaffen. Das waren Ewigkeiten, ich habe stundenlang gelesen: es war viel zu lang. Ich weiß gar nicht, wie oft ich darüber saß und gekürzt und gekürzt und gekürzt habe, so dass man da einen runden Abend draus machen kann, der auch erträglich für die Leute ist – auch was die Zeit angeht. Ich bin jetzt bei knappen zwei Stunden und auch ganz glücklich mit der Fassung. Jedenfalls hat mir das so große Freude bereitet, dass ich gesagt habe: Da mache ich einen neuen, einen eigenen Abend draus.
Ich habe immer wieder daran gearbeitet, durchgewälzt, geguckt, wie ich das verdichten kann, ohne den Roman kaputtzumachen. Ich kann natürlich nicht den ganzen Roman vorlesen. Ich finde das immer schwer, wenn man an ein Werk herangeht, das zusammenzustreichen. Ein langwieriger Prozess, wo ich aber der Meinung bin, dass ich mittlerweile ziemlich auf den Punkt gekommen bin. Ich habe ein kleines Bühnenbild dabei. Das mache ich ja immer gerne, dass ich mir ein kleines Theater baue. Dazu gibt es ein paar Musikeinspielungen. Ich stehe zum ersten Mal seit langer Zeit wieder alleine auf der Bühne. Im Großen und Ganzen ist es so, dass der Text absolut im Vordergrund steht. Das kommt bis hierhin gut an und bereitet auch mir große Freude. Die Leute hören da, glaube ich, gerne zu.

? Der Inhalt des Buches hat ja einen durchaus starken Gegenwartsbezug.

! Wenn man sich in Berlin so umguckt: absolut. Gerade eben haben wir hier noch über den Alexanderplatz gesprochen, was da so los ist. Wenn man sich da umguckt, dann ist das schon wieder nah dran am Buch. Insofern ist es sehr zeitgenössisch, ja.

? Mal zu Ihnen persönlich. Es macht den Eindruck, dass Ihre sanfte Seite in den Hörbuchproduktionen sehr deutlich zum Ausdruck kommt. Empfinden Sie selbst das auch so? Es gibt ja nach außen durchaus das Bild vom barocken Typen.

! Ja, es gibt den Bildzeitungs-Ben-Becker. Das bin ich ja nicht, das ist ja Blödsinn. Zum einen bin ich ein bisschen ruhiger geworden, aber zum anderen weiß ich, was ich wirklich gemacht habe. Es kann mir auch immer wieder noch mal etwas rausrutschen. Es ist meinerseits aber letzten Endes nur eine Infragestellung der bürgerlichen Moral, die mir sozusagen entgegenkommt. Wenn man da im richtigen Moment auf den Knopf drückt, dann knallt es gleich. Da gibt es halt bestimmte Sachen, die darf man nicht machen oder die sind verboten oder verrucht, und dann geht das ganz schnell, dass man dieses Image des harten Kerls bekommt, das sie mir verpasst haben. Mein Publikum weiß auch, dass das nicht so ist, und die Leute wissen auch, dass sie es mit einem – unter anderem – nachdenklichen Menschen zu tun haben.

? Nervt es Sie, dass dieses Vorurteil Ihnen manchmal so anhaftet?

! Ja, weil die andere Seite das falsch sieht oder ich da falsch verstanden werde, weil man Sachen nicht als Kunstwerk sieht, sondern immer 1:1 betrachtet. Man sieht nicht, was dahinter steckt oder wie es gemeint ist. Da hat man dann aufgrund der geringeren Öffentlichkeitswirkung nicht so großes Interesse dran, mal tiefer zu graben oder zu gucken: Warum macht er das. Wie bei den Böhsen Onkelz (Anmerkung: Becker hat die Band bei ihrem Comeback-Konzert 2014 angekündigt). Die Geschichte dahinter, die weiß keiner. Die interessiert dann auch niemanden mehr, außer mich. Was mir auch seit Ewigkeiten aufs Brot geschmiert wird, sind diese Hells-Angels-Geschichten. Das rührt natürlich aus der gleichen Ecke, warum ich den Ernst-Haffner-Roman toll finde: weil ich da etwas für übrig habe, für diese Ausständigen-Geschichten, weil mich das interessiert. Ich habe Angst vor den Hells Angels! Ich habe mal einen Song geschrieben, das war 1997, der wird mir heute noch aufs Brot geschmiert. Dabei habe ich von einem kleinen Jungen gesungen, der von Piraten träumt. Auf der Straße fahren Motorräder vorbei, und die Fahrer sagen: Wir sind frei und unantastbar. Der Junge steht fassungslos daneben, und guckt da hoch, als würde er einen Superman Comic lesen. Das habe ich versucht in Kunst einzuarbeiten, und das ist mir nicht immer gelungen. Aber da muss ich dann auch mit leben.

? Jetzt wo sie ihn erwähnen: Ihr Auftritt vor den Böhsen Onkelz wirkte schon relativ skurril.

! Klar, aber das macht ja nichts. Man kann doch auch mal ein skurriles Bild malen. Es gab auch Leute, die haben sich umgedreht und gewundert, warum ich plötzlich die Bibel mache oder Celan. Der Farbkasten, der vor mir steht, ist groß, und ab und zu habe ich Lust alles auszuprobieren.

? Es gibt diesen Satz im Text „Ich-Gegensatz zu mir selbst“ von Klaus Kinski, den Sie im Album „Fieber – Tagebuch eines Aussätzigen“ lesen: „Ich bin durchaus sehr zart und fühle mich doch kräftiger als alle“. Trifft es das?

! Ja, das hat was davon. Ich habe mal, für meine sogenannte Biografie – ich war immer der Meinung, es ist keine, aber es ist leider doch eine – irgendwann mal den Titel erfunden Panzer aus Porzellan. Das fand ich auch ganz nett (schmunzelt).

? In den letzten Jahren sind sie ein wenig ruhiger geworden, wie Sie selbst sagen. Seit ihrer Hochzeit im Jahr 2012 arbeiten Sie auch vermehrt an kinderkompatiblen Sachen.

! Ich habe ja viel für Kinder gemacht, das mache ich auch gerne. Mit „Bruno“ sind es nun immerhin vier Bücher geworden. Ich hatte schon immer eine kindliche Seite. Wenn man die nicht hat, traut man sich wahrscheinlich auch an die Hells Angels nicht heran. Das kommt letztlich aus einem ganz naiven Sandkastendenken heraus. Man hat mich in diese Welt reingesetzt, und jetzt beobachte ich, bastle mir kleine Theater, Gedichte oder Bildchen zusammen und schieße die nach draußen.

? Läuft das darauf hinaus, dass da auch mal was unüberlegt ist?

! Selten. Es ist eher so, dass wenn ich mich aus dem Fenster lehne und einen auf die Mütze kriege, dass mir das wehtut. Das ist natürlich ein schmerzhafter Prozess. Ich habe aber gemerkt, dass über die Jahre, wenn Zeit vergangen ist, mir das Gesamtkunstwerk dann doch gefällt. Ich bin ja einer der wenigen, die auffallen mit einem gewissen Unangepasstsein, und einer der das auch konstant beibehält.

? Derzeit sind Sie mit vielen Lese-Projekten beschäftigt. Ist denn auch im Bereich Kino oder Bühne mal wieder etwas geplant? Wenn ich richtig liege, waren Sie seit 2012 nicht mehr als Schauspieler auf der Bühne.

! Ich glaube, da haben Sie fast recht. Wobei ich sage ja immer: Wenn ich die Bühne überhaupt betrete, bin ich auch Schauspieler, schauspielerisch tätig bin ich ja so oder so. Das letzte richtige Bühnenengagement war, glaube ich, „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ und das ist 2012 geendet, das ist wohl wahr. Da muss ich auch ganz ehrlich sagen, dass ich das momentan ein bisschen vermisse. Ich warte, dass etwas kommt, bin da aber guter Hoffnung. Was den Film angeht: Ich drehe in letzter Zeit wieder etwas mehr, habe wieder ein paar Sachen gemacht. Schauen wir mal.

? Eine größere Lücke gibt es, was Ihr Musikschaffen anbelangt. Ist in der Richtung etwas geplant?

! Da würde ich sehr gerne was machen, aber die Luft ist sehr eng. Das ist sehr schwer umzusetzen momentan. Das Geld sitzt einfach nicht mehr so locker, und solch ein Projekt kostet ja Geld. Ich habe etwas in petto, bin ja letztes Jahr auch mit einer Band getourt. Aber dafür einen Vertrag zu kriegen oder ein Label, das das Studio bezahlt, das habe ich bisher noch nicht geschafft. Ich würde gerne, und ich bin da auch wirklich in den Startlöchern. Manchmal muss man jedoch auch ein bisschen Geduld und Ruhe mitbringen, wenn man eigene Projekte machen will.

? Woran arbeiten Sie derzeit?

! Aktuell habe ich drei Lesungen am Laufen: „Der ewige Brunnen – Gedichte und Balladen“, „Zweistimmig – Hommage an Paul Celan“ mit Giora Feidman zusammen und – das ist ja noch ziemlich frisch – die „Blütsbrüder“. Und ich beschäftige mich momentan, das habe ich gerade als Hörbuch eingelesen, und das werde ich auch live machen, mit Walter Jens „Verteidigungsrede des Judas Ischarioth“. Dazu plane ich auch einen eigenen Abend – über Verrat.

? Das klingt, als seien Sie bis Ende des Jahres gut ausgelastet?

! Eventuell.

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