Was war das? Dieses Knarren und Knacken. Schritte? Nein, ausgeschlossen. Auf Anholt gibt es nur Wind und Wellen. Vor allem in einer Winternacht. Ein Holzhaus am Wald macht im Sturm Geräusche, doch das ist wirklich die einzige Ruhestörung. Ansonsten ist die Insel Anholt, mitten im Kattegat zwischen Dänemark und Schweden gelegen, ein verdammt stiller Ort.
Sieht man einmal von Grönland und den Färöern ab, ist Anholt die abgelegenste Insel im dänischen Königreich, nur ein kleiner Fleck im Blau des Kattegat, bewohnt von 165 Personen. Agnethe Nörgaard ist eine von ihnen. „Wer für immer hierher zieht“, sagt sie, „muss es wirklich wollen.“ Es sei ein bisschen wie Auswandern. Nörgaard leitet die lokale „Turist-Information“, ein kleines Büro in einem Backsteinhaus. Sie stammt aus der dichtest besiedelten Gegend des Landes, aus Kopenhagen. Warum nun Anholt? Agnethe lächelt. Sie kam im Sommer 1980 hierher, verliebte sie sich zunächst in die Insel, im Jahr darauf in einen Fischer. Dann zog sie um. Der Start war nicht einfach. Das Wichtigste sei gewesen, flexibel zu bleiben und sich von der Vorstellung zu verabschieden, man könne hier genauso wie auf dem Festland leben, sagt Agnethe. Wenn das Schiff wegen Sturms nicht auslaufe, müsse man eben zu Hause bleiben, und sei der Termin auf dem Land noch so wichtig. Dann könne es auch vorkommen, dass die Telefonverbindung zum Festland abreißt. „Die Zeit läuft uns nicht weg“, sagt Agnethe, „und eigentlich sind wir in allem zwanzig oder dreißig Jahre hinterher.“
Im Sommer, von Ende Juni bis Ende August, bringt die Fähre nicht nur Tageszeitungen, Baustoffe oder Lebensmittel auf die Insel. Dann befördert sie auch Besucher, an manchen Tagen sogar Hunderte, nach Anholt. Etwa 60000 sind es jährlich.
Wer nach Anholt kommt, muss wissen, dass es viele Dinge hier einfach nicht gibt. Zum Beispiel Autos, außer ein paar Taxis und auch der Inselarzt ist motorisiert. Wozu auch? Mehr als fünf, sechs Kilometer asphaltierte Straße gibt es hier nicht. Auch ist es empfehlenswert vorzusorgen: Es gibt keinen Bankautomaten und die Handvoll Bars und Kneipen hat nur im Sommer geöffnet. Zur Erkundung der Insel bleiben nur Füße und Fahrrad. Eine Hügelkette entlang der Westseite schirmt den einzigen Ort Anholt By vom Westwind ab. Dort führen Wanderpfade auf den Nordbjerg und den Sönderbjerg, letzterer mit 48 Metern die höchste Erhebung der Insel und ein wunderbarer Aussichtspunkt.
Vier Fünftel Anholts bestehen aus der Örkenen, der „Wüste“, wie die Landschaft genannt wird. Und wüstenartig mag diese Gegend auch anmuten an heißen Tagen, wenn das Auge nichts erblickt außer flachen, mattenartigen Bodengewächsen, ein paar Sträuchern und einigen bis zu zwanzig Meter hohen Sandwällen. Die Örkenen ist die größte zusammenhängende Flechtenheide Skandinaviens, sie erstreckt sich über zehn Kilometer bis zum Leuchtturm Anholt Fyr an der Nordostspitze. Die Fläche steht wie 90 Prozent der Insel unter Naturschutz und wird von der dänischen Umweltbehörde verwaltet. Bis zum Leuchtturm und zurück muss der Wanderer mindestens viereinhalb Stunden einplanen. Es mag komisch klingen, doch: Verpflegung mitnehmen – und einen Kompass, damit man den Rückweg auch bei diesigem Wetter findet. Denn Wege gibt es hier nicht. Außer den Sanddünen finden sich auch kaum Anhaltspunkte, an denen man sich orientieren könnte. Im Sommer begegnen einem einige andere Besucher, doch im Winter kann es sein, dass man den ganzen Tag allein bleibt.
Genau diese Ruhe suchte Palle Dall Larsen. 2012 zog er mit seiner Freundin auf die Insel, um der „Hektik der Stadt“ zu entgehen, wie er sagt. Davor lebte er in Grenaa, dem Städtchen an der Küste gegenüber, knapp 15000 Einwohner. Doch selbst dort war es ihm oft zu viel. „Wenn man am Wochenende einkaufen wollte, fand man kaum einen Parkplatz, in den Läden war furchtbares Gedränge, es war immer laut.“
Menschen bewerten Enge durchaus unterschiedlich, soviel ist klar. Palle, Mitte vierzig, Geheimratsecken, dicker Fleece-Pullover, ist jedoch ein besonderer Fall. Auf Seeland geboren, zog er oft in Dänemark um, bis er in der entlegendsten Gegend der dänischen Krone einige Jahre seine Ruhe fand. „Ich habe fünf Jahre in Grönland auf der Thule Air Base gelebt“, sagt Palle. „Das war richtig einsam.“ Im Vergleich zur Arktis ist seine neue Heimat ein geradezu pulsierender Ort. Doch kein Vergleich mit dem Festland, sagt Palle: „Überall gibt es dort Brücken, Tunnel und Autofähren. Die Straßen hier auf der Insel sind jedoch gottlob nicht für Autos gemacht.“ Nur so könne wirkliche Ruhe entstehen. Die genießt er am liebsten auf dem Sönderbjerg. „Dort oben könnte ich stundenlang stehen“, sagt er. Es ist früher Abend und stockdunkel. Palle Dall begleitet seinen Gast ein Stück des Heimweges. Er hält inne, schließt die Augen und atmet tief ein. „Hörst du das?“, fragt er. Nein, gar nichts. „Eben“, sagt Palle, „das ist doch Luxus heutzutage.“