Von Marion Korth, 09.09.2015.
Braunschweig. Ein Anruf am Samstagnachmittag und dann musste alles ganz schnell gehen: 900 Flüchtlinge erreichten im ICE am Sonntagmorgen um 6.50 Uhr den Braunschweiger Hauptbahnhof.
Für die meisten nur eine Zwischenstation, 135 Menschen wurden in die Landesaufnahmebehörde gebracht, außerdem nahm die Stadt 50 minderjährige Jugendliche, die ohne Begleitung waren, in ihre Obhut. Mit so viel jungen Flüchtlingen ohne Familien hatte niemand gerechnet, trotzdem gelang es, alle unterzubringen. Erschöpft sind die Jungen – der jüngste ist 13 –, aber vor allem sind sie froh, endlich in Sicherheit zu sein. Am Montag besuchten wir die jungen Flüchtlinge in der Neustadtmühle, ihrem neuen Zuhause auf Zeit.
Ein Zettel klebt an der Fensterscheibe: „Der Spielenachmittag fällt heute aus“. Über Nacht ist die Neustadtmühle zur Jugendherberge geworden. Im Eingangsbereich stehen Kartons voller Kleider, Decken liegen auf Stapeln.
Angekündigt waren der Stadt sogar 70 unbegleitete Jugendliche, tatsächlich angekommen sind 50. Die anderen sind gleich weiter, wer sie sind und wohin sie wollen, weiß keiner. Die Flucht ist selbst für die, die jetzt in Braunschweig sind, noch nicht zu Ende. Sie kommen aus Syrien, dem Irak, Pakistan und Afghanistan, alles Jungen. Der jüngste ist 13, auch er will weiter – nach Schweden, wo Verwandte leben. Auch andere sind nach einer ersten Nacht schon wieder auf dem Sprung. „Freiburg.“ Sara Rhoda erklärt dem jungen Mann aus Afghanistan, wo er aus dem Zug steigen muss. Ein Betreuer hat ihm einen Zettel gegeben, darauf eine Telefonnummer: „Falls dich Polizisten ansprechen“. Auch das übersetzt Sara Rhoda. Schon wartet jemand für den Fahrdienst zum Bahnhof. Dieser junge Flüchtling wird von seinem Onkel in Freiburg erwartet. Seine Sachen soll er jetzt holen. Er schüttelt den Kopf, er hat keine persönlichen Sachen.
Viele der Jungen hatte nur ein T-Shirt an, manche Badelatschen an den Füßen. Einer liegt krank auf seiner Matratze, er kann kaum noch gehen. Nach Wochen auf der Flucht sind seine Füße blutig und entzündet.
„Wir versuchen, das Chaos zu verwalten“, sagt Martin Albinus, bei der Stadt zuständig für allgemeine Erziehungshilfen. Dabei wirkt hier nichts chaotisch. Nur Jugendzentrumsleiter Ekkehard Nöring ist ein bisschen im Stress. „Ich muss die Heizung in Gang bringen, die ist auf Sommerbetrieb, das heiße Wasser reicht nicht für die Duschen“, entschuldigt er sich und flitzt wieder weg.
In einem Szenario hatte die Stadt sich darauf vorbereitet, zehn Jugendliche in der Neustadtmühle auf Zeit unterzubringen, nun sind es 41 in vier auf die Schnelle hergerichteten Zimmern. Neun Jungen haben im Kinder- und Jugendschutzhaus Ölper eine Unterkunft gefunden. Die Metro half mit einer Sonderöffnung. Großeinkauf für Matratzen, Bettzeug und Kleidung. Pragmatisch wurde auch die Essensversorgung gelöst. Gemeinschaftliches Brötchenschmieren am Vormittag, Pizzabringdienst zum Mittagessen. „Die Jugendlichen haben sich gefreut, hier sein zu dürfen“, sagt Albinus. Sonst seien sie zurückhaltend, hätten Angst. Staatsgewalt haben sie bislang als gewalttätig erlebt. Jetzt können sie kaum glauben, dass in Deutschland der Staat für sie sorgt.
Pässe und Papiere hat keiner von ihnen. Einige sind Analphabeten, aber da ist auch der Junge, der in nahezu perfektem Deutsch anbietet, ins Arabische übersetzen zu können. Regina Dirk, Leiterin des Kinder- und Jugendschutzhauses, hat am Vormittag „ihre“ Kinder zur Erstuntersuchung ins Gesundheitsamt gefahren. „Ein Junge hat mich gefragt, wann er in die Schule gehen darf“, sagt sie.
Im Hintergrund läuft das übliche bürokratische Programm: Wer sind die Jungen? Haben sie Verwandte? Sind sie wirklich minderjährig? Viele Fragen, die geklärt werden müssen, später werden Amtsvormundschaften bestellt, Plätze in Wohngruppen gesucht. Ein Anfang ist gemacht.
Ein paar der Jungen lächeln schüchtern. Lachen habe ich niemanden gehört.