Braunschweig. „Schreib doch mal was Schönes“ – den Satz hat Thorsten Stelzner schon häufiger gehört. Das erste Mal von seiner Mutter. Da war er 13. Lebte mit Eltern und Geschwistern in der Weststadt.
Vor allem auf dem Großmarkt, wo die Eltern in dritter Generation einen Frucht-Großhandel besaßen. Obst, Gemüse, Kartoffeln … das war die Welt für ihn. Lyrik gehörte eher nicht dazu. Mit „Ball Pompös“ von Udo Lindenberg öffneten sich für den Jungen fremde Türen. Hinter denen gab es Poesie und Gedichte. Die ersten Zeilen bekam zunächst nur die Mutter zu sehen.
Heute ist der 58-jährige Lyriker, Satiriker, Verleger, Betreiber der Galerie und Kleinkunstbühne „Die Vita-Mine“ in Braunschweig und der „Vita-Villa“ in Wolfenbüttel. Er ist Ehemann, Hausmann, Vater von vier Kindern. Und – ganz neu – Sänger. Ein glückliches Leben. „Ich bin unsagbar dankbar“, sagt er. Es hätte auch anders kommen können.
„In der Schule war ich eher selten“
Es war Ende der 70er, in Lederjacke und Cowboystiefel, abhängen, Musik hören, rumgammeln: „In der Schule war ich eher selten“, grinst Stelzner und erinnert sich an ein Mittagessen mit seinem Vater, der durch den Großmarkt-Job tagsüber zu Hause war. Der Alte: „Na, wie war es heute? Ich war heute im MK“ … Pause… „du nicht.“ Mehrere Schulen weiter hatte der Junge die Mittlere Reife und nicht den Schimmer einer Ahnung, was werden sollte. Und wieder war es so eine kurze Handschlag-Unterhaltung, die seine Weichen stellte. Diesmal mit seiner Mutter. Sie war auf dem Großmarkt unterwegs, um Rechnungen zu verteilen und traf einen Kollegen: „Brauchst du ‘nen Lehrling?“, „Deinen Sohn?“, „Ja“, „1. August.“
Vom Jolly morgens direkt in den Großmarkt
„Die Lehre und das selbstständige Arbeiten auf dem Großmarkt haben mich fürs Leben versaut“, erzählt Thorsten Stelzner mit lautem Lachen, „zumindest für ein Leben im Angestelltenverhältnis.“ Es war ein Männerleben. „Wild, anstrengend – aber unheimlich schön“, erinnert sich Stelzner noch gern an Arbeitstage, die sich manchmal direkt an lange Nächte im benachbarten Jolly anschlossen. Nach sechs Jahren Doppelschicht, bestehend aus feiern im Braunschweiger Nachtleben und arbeiten im Großmarkt, musste er etwas ändern. Auch aus gesundheitlichen Gründen.
Die Wiedervereinigung lockte ihn nach Magdeburg, zwei Jahre Wochenmarkt und er hatte das Geld für seinen ersten eigenen Obst- und Gemüseladen am Bültenweg zusammen. Später ging es zum Hagenmarkt. „Und einen Stand bei Göthe vor der Tür“, erzählt Stelzner. Und immer schreibt er. Ende der 80er bringt Thorsten Stelzner in Eigenregie sein erstes Buch auf den Markt. Unterstützt und gedrängt von den damaligen Größen der Braunschweiger Gastroszene. Auch zum ersten Auftritt wird er in dieser Zeit liebevoll überredet.
Stelzner ist gut vernetzt. Die Nähe seines Obstladens am Hagenmarkt zum Gewerkschaftshaus hat Folgen. Die hauptberuflichen Arbeitskämpfer lesen beim Einkauf die kritischen Gedichte. Und sie gefallen ihnen. Es ist die Sprache der Linken, der Protestbewegung, der Jugend. „Was machst du am 1. Mai?“, „Was machst du am Antikriegstag?“ – Fragen, die für Thorsten Stelzner zu den ersten größeren Auftritten führen: Hannover, Magdeburg, Berlin – die Kreise werden größer. Die Zuschauerzahlen auch.
„Warum singst du nicht?“
Stelzner lernt andere Künstler kennen. Konstantin Wecker zum Beispiel, der ihm sagt: „Du machst gute Texte, die Leute hören dir zu, warum singst du nicht?“ Denn Wecker weiß zu gut, dass mit Musik mehr Menschen zu erreichen sind als mit Gedichten only.
„Das ist schon noch Neuland für mich“, sagt Thorsten Stelzner, „denn bis vor anderthalb Jahren war ich der festen Überzeugung: Ich kann gar nicht singen.“ Doch ein Event in der Hilde hat ihn eines Besseren belehrt. „Es war beim Krimifestival, ich habe meine Texte gelesen und Geza und die Musiker, die immer um ihn herum sind – Axel, Fritze, Helge, Hoschi und ein paar andere – haben spontan Musik unter meine Texte gelegt“, erzählt Thorsten Stelzner, „und ich habe dazu melodisch gelesen, als fast gesungen. Jedem im Raum war hinterher klar: Das muss weitergehen.“ Die Kollegen haben seine musikalische Seite erkannt und geweckt.
Und es geht weiter. Gerade war er mit Geza Gal im Applausgarten, nächsten Samstag ist er mit seinem Programm auf der Oker unterwegs. „Ich lebe meinen Traum“, sagt er. Zu diesem Traum gehört wesentlich auch seine Frau Silvia, die mit ihrem Job bei VW Financial die finanzielle Basis liefert. Er ist Hausmann, Vater von vier Kindern (eine Tochter ist aus einer früheren Beziehung) und „ich danke meinem Schöpfer auf Knien für die Zeit mit den Kids.“ Denn bei Familiengründung war klar, dass er als Obsthändler rund um die Uhr hätte arbeiten müssen, um auch nur annähernd genug zu verdienen.
„Die Dinge passieren, sie kommen zu mir“
Also Arbeitsteilung. In Timmerlah. Da gab es ungläubiges Staunen, auch im Familien- und Bekanntenkreis, Häme und dumme Sprüche. „Ich bin die eingefleischteste Emanze überhaupt geworden“, sagt Thorsten Stelzner zu seiner Hausmann-Rolle. Jetzt, im Rückblick, wird ihm so richtig klar, wie viel Glück auf seinem Weg lag und liegt. „Ich hatte nie wirklich einen festen Plan, die Dinge passieren, kommen zu mir“, erzählt er. Wie die „Vita-Villa“ in Wolfenbüttel. Irgendwann stand eine Frau vor seinem Schaufenster in der Karl-Marx-Straße im Östlichen, studierte seine ausgestellten Texte und kam rein: „So einen wie Sie suche ich. Ich habe ein Haus in Wolfenbüttel, da soll auch so etwas entstehen.“ Und es war nicht irgendein Schuppen in einem grauen Industriegelände, nein, ein schmuckes Häuschen am Okersteg in Klein-Venedig. „Wir kamen aus dem Staunen nicht heraus“, erinnert sich Stelzner noch gut an den Tag, als er mit einer seiner Familie zur Besichtigung in seine Geburtsstadt Wolfenbüttel fuhr. „Und was wollen Sie dafür haben?“, fragt er zaghaft. Die unglaubliche Antwort: „Ab und zu einen Blumenstrauß.“
Auch einer seiner populärsten Texte kam sprichwörtlich über Nacht zu ihm: Sein Corona-Gedicht „Gute Nacht, Deutschland!“, das von Verzweiflung, Dankbarkeit, Solidarität und Egoismus handelt und ihn weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt gemacht hat.
Ein Gedicht für seine Kids
Inzwischen gibt es auch schöne Texte. Seine Mutter hat ihre helle Freude an ihrem Jungen. „Dies hier zum Beispiel“, sagt der Dichter und schlägt ein Buch auf. „Ich erinnere mich genau, es war ein Tag vor Heiligabend und ich fragte meine Frau: Was bekommen unsere Kinder eigentlich zu Weihnachten?“ Die Mutter zählte die Dinge auf, die die lieben Kleinen auf ihren Wunschzetteln stehen hatten. Das war dem poetischen Vater aber zu trivial. Bestellen – liefern. Also noch schnell ein bisschen Lyrik: „Meinen Kindern ein Gedicht”. Sehr emotional, sehr schön.
Wer mehr hören möchte: Lied und Lyrik von und mit Thorsten Stelzner und Geza Gal am nächsten Samstag (11. September), ab 19.30 Uhr an der Floßstation, Kurt-Schumacher-Straße 25. Die Zeit während der Pandemie haben beide genutzt, um ein Album zu produzieren: „Der Mann auf der Terrasse“ heißt es. Darauf sind „Meinen Kindern ein Gedicht“, das Corona-Gedicht sowie 16 weitere Titel. Erhältlich in der VITA-MINE, bei Graff und auch bei den Auftritten.