11. Oktober 2019
Umwelt

NB-Thema: Nachhaltigkeit: Ein Leben ohne Auto ist kein Irrtum

Folge 4: Vater, Mutter und drei Kinder: Familie Hilmer zeigt der Welt jeden Tag, „dass es auch anders geht“

Familie Hilmer hat kein eigenes Auto. Mitja (5), Karla (17), Astrid (42), Lenja (13) und Heiko Hilmer (50) erledigen fast alle Fahrten mit dem Fahrrad. Zu ihrem Fuhrpark gehören E-Bikes und Anhänger. In den Urlaub nach Frankreich sind sie mit der Bahn gefahren. Foto: Marion Korth

Westliches Ringgebiet. Zwei Zelte zwischen lauter Wohnmobilen. Familie Hilmer aus Braunschweig hat die Ferien auf einem Campingplatz an der französischen Atlantikküste verbracht. „Wir waren da die Exoten“, sagt Heiko Hilmer.

Er selbst hat auch gestaunt über die mobilen Hausstände, die da angerollt kamen. Die Nachbarn hatten sogar eine Salatschleuder dabei. Zelten, so wie früher, das macht heute wohl keiner mehr. Obendrein war die Familie mit dem Zug nach Frankreich gereist – auch das eine Seltenheit. Zurück in Deutschland sind die Hilmers immer noch Exoten: Vor neun Jahren ist ihnen ihr VW-Bus gestohlen worden. „Das war der Wink mit dem Zaunpfahl“, sagt Astrid Hilmer. Seither hat die Familie kein eigenes Auto mehr, dafür aber die Erkenntnis: „Wir haben alles richtig gemacht.“

Zugegeben: So ein Familienurlaub mit der Bahn setzt Organisationstalent und Disziplin beim Packen voraus. Was da an Zeit „draufgeht“ wird im Jahresverlauf eingespart, denn ein Auto kostet nicht nur, es will auch „betüdelt“ werden: waschen, staubsaugen, zur Inspektion bringen, um nur ein paar Beispiele zu nennen.

Angekommen an der Atlantikküste, zwei kleine Zelte zwischen Wohnwagen und Campingmobilen …

 

Also Urlaub mit der Bahn. Es ist ein kleines Kunststück, die Campingausrüstung mit zwei Zelten, zweiflammigem Gasherd und Doppelmatratze im „Handgepäck“ unterzubringen. Aber schließlich ist alles verstaut. Die „Großen“ gehen mit Rucksack und Rollkoffer vorweg, der Kleine nimmt die Kuscheltiere huckepack. Bahn fahren ist für Hilmers „Urlaub von Anfang an“, die Kinder genießen die freie Zeit mit den Eltern. „Man kommt da gut hin, Paris-Bordeaux haben wir sogar in zweieinhalb Stunden geschafft, das war der Wahnsinn“, sagt Heiko Hilmer.

…Die komplette Campingausrüstung hatten die Hilmers als „Handgepäck“ in Rucksäcken und zwei Rollkoffern dabei. Die Nachbarn staunten.

Der Urlaub ist keine Ausnahme. „Unseren Alltag haben wir komplett autofrei organisiert“, sagt Astrid Hilmer. Zum Fuhrpark der Familie zählen unter anderem drei E-Bikes und ein Anhänger, die Kinder hätten schon in der zweiten Klasse ganz selbstverständlich Bus und Straßenbahn genutzt.

Der VW-Transporter stammte noch aus einer anderen Zeit, als die Hilmers in Erkerode wohnten und ein Leben ohne Auto nicht funktioniert hätte. „Wir sind bewusst in die Stadt gezogen“, sagt Heiko Hilmer. Dort, wo praktisch alle Angebote auf kurzen Wegen liegen, wo die Kinder nicht ständig zwischen den Dörfern hin- und hergefahren werden müssen. Für die Reise zu einer Hochzeit in Süddeutschland hatten Hilmers sich ein Auto gemietet, mit Car Sharing oder gelegentlich einem von Freunden geliehenen Auto schließen sie die verbleibenden Mobilitätslücken. Lebensmittel lassen sie sich vom Bioladen liefern, alles andere passt aufs Fahrrad.

„Wir haben nicht 1,5 Tonnen Blech und Plastik vor der Haustür stehen“, sagt Astrid Hilmer. In Deutschland werde viel von Effizienz gesprochen, „dabei ist Autofahren total ineffizient.“ Auch ihr Mann kann es manchmal kaum fassen, wenn er an der Bushaltestelle steht und sieht, „wie viel Blech da vorbeirollt, wie viele Kolbenhübe, wie viel Abgase und dann sitzt da nur einer drin.“

Die Zulassungszahlen von SUVs steigen, Hoffnung macht den Hilmers die junge  Generation. Der Automatismus, dass schon 18-Jährige ein Auto vor der Tür stehen haben, sei durchbrochen. Die eigene Tochter möchte erst einmal keinen Führerschein machen – nicht aus ideologischen Erwägungen, sondern weil sie darin keinen Sinn für sich sieht.
Mobilität, Ernährung, Konsum – die Hilmers habe ihr Leben schon ziemlich umgekrempelt und strengen sich weiter an. Sie kaufen nicht ständig neue Klamotten, essen viele Bio-Lebensmittel. „Und doch bräuchten wir für unseren Lebensstil 1,6 Erden“, stellt Heiko Hilmer nüchtern fest. Deshalb sei jetzt auf allen Ebenen „Mut zum Umbruch“ erforderlich. Menschen, die bereit sind, ihren Besitzgedanken neu zu gestalten, Unternehmen, die keine Fahrzeuge, sondern Mobilitätskonzepte verkaufen, Städte, in denen Menschen und keine Autos Vorfahrt haben. Bei der Mobilitätswende fehle es aus Sicht der Fahrradvielfahrer bislang schon an Kleinigkeiten, wie genügend Fahrradstellplätzen und fahrradfreundlichen Vermietern, die erlauben, dass Räder im Hof stehen dürfen. Mehr und ausreichend dimensionierte Fahrradwege und sichere Ampelschaltungen gehören natürlich auch dazu.

Astrid und Heiko Hilmer sind beide Ingenieure von Beruf, Städteplanung und erneuerbare Energien sind ihre Schwerpunkte. Beide engagieren sich mit voller Kraft in der Regionalen Klimaagentur Reka, die sich als reale Plattform versteht, um Menschen mit Ideen in der wirklichen Welt zusammenzubringen. Die beiden schauen mit sachlichem Blick auf die Welt und den Klimawandel und sehen den Uhrzeiger nicht fünf Minuten vor, sondern schon nach zwölf Uhr stehen. Entmutigen lassen sie sich trotzdem nicht. Nach dem Auto steht aktuell die Wohnung auf dem Prüfstand (120 Quadratmeter für fünf Personen). Astrid und Heiko Hilmer liebäugeln mit einem „Tiny House“, beziehungsweise für den Anfang mit zwei oder drei, bis die Kinder aus dem Haus gehen…

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