2. November 2021
Bildung

Studie will wissen: Wie geht es Ihnen heute?

2009 wurden Familien mit geringem Einkommen befragt, 2018 besuchten die Forscher sie wieder

Stellten die Langzeitstudie zu der Situation von Familien mit geringem Einkommen vor, v.l.: Tobias Henkel (Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz), Andreas Kämper (Gesellschaft für Organisation und Entscheidung), Professor Holger Ziegler (Universität Bielefeld) und Norbert Velten (Vorstand Diakonie Stiftung im Braunschweiger Land). Foto: Birgit Wiefel

Braunschweig. Was bedeutet es, mit sehr wenig Geld auskommen zu müssen? Welche Spuren hinterlässt es, wenn der Gürtel ständig enger geschnallt werden muss? Und: Welche Hilfen wirken wirklich? Zum ersten Mal fand in der Region eine Langzeitstudie statt. Mit erstaunlichen Ergebnissen.

2009 hatten Forscher der Gesellschaft für Organisation und Entscheidung, kurz GEO, und Sozialwissenschaftler der Uni Bielefeld 311 Familien besucht. Die Diakonie im Braunschweiger Land und die Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz wollten mehr über deren Lebenssituation wissen. Alle Haushalte galten als einkommensschwach, kämpften mit finanziellen Sorgen. Neun Jahre später sollten die Wissenschaftler nachhaken, was sich verändert hat. Von den damaligen Familien öffneten immerhin 50 noch einmal ihre Türen. „Ein gutes Ergebnis, wenn man bedenkt, dass wir zehn Jahre keinerlei Kontakt zu den Befragten hatten“, sagt Andreas Kämper von GEO.

Mehrheit hat es geschafft

Das Ergebnis: Bei 42 Prozent hatte sich die Situation verbessert. Sie hatten eine Arbeit gefunden, standen finanziell auf sicheren Füßen, die Kinder waren inzwischen selbstständig und aus dem Gröbsten heraus. Bei 22 Prozent – häufig Alleinerziehende – hatte sich dagegen nichts verändern. „Es sind diese 22 Prozent, die uns Kopfschmerzen bereiten“, legt Professor Holger Ziegler von der Uni Bielefeld den Finger in die Wunde.
Denn: In den vergangenen zehn Jahren hatte es keine wirtschaftlichen Krisen gegeben, „und auch die Sozialplanungen in den Kommunen wurden fortgeschrieben“, fügt Norbert Velten vom Vorstand der Diakonie-Stiftung im Braunschweiger Land an.
Woran liegt es also? An den Familien selbst, die es einfach nicht schaffen, „die Kurve zukriegen“, sich also nicht organisieren können? Oder an den Hilfen, die nicht passen?

Problem: Zu wenig Geld

Die Zahlen sind aufschlussreich. „Wer sich ständig den Kopf zerbrechen muss, wie er über die Runden kommt, hat kaum noch einen Gedanken für andere Aufgaben frei – etwa von sich aus Hilfsangebote zu suchen“, fand Andreas Kämper heraus. In solchen Momenten könnten sogar falsche Entscheidungen getroffen werden, die die Armut weiter verschärften. „Oft gibt es auch gar nicht das EINE Problem, sondern ein ganzes Bündel“, so Kämper. Armut hat Folgen für die Gesundheit, hinzu kommt die Belastung mit Ämtern und Behörden. „Die Betroffenen empfinden das Sozialsystem nicht unbedingt als Erlösung und Befreiung, sondern eher als Bedrohung und Kontrolle. Sie fühlen Angst und Scham“, sagt Holger Ziegler.

Schuld daran sei auch die verzerrte Sicht, die die Institutionen auf die Familien haben. Das wenige Geld werde überwiegend für Handys, Alkohol und Zigaretten ausgegeben, so die überwiegende Annahme. Ganz anders die Betroffenen. „Als erstes verzichten wir aufs Ausgehen, auf Kleidung, Urlaub und Handys“, antworteten sie auf die gleiche Frage. Die Kinder von sozial Benachteiligten würden besonders unter Ausgrenzung, Benachteiligung und eingeschränkter Teilhabe leiden, sagen die Entscheider. Nein, sagt die Studie. Für die 2018 befragten inzwischen erwachsenen Kindern waren rückblickend die fehlenden Finanzen und die Sorgen der Eltern darum eine viel größte Belastung. Dennoch haben die meisten ihren Weg gemacht, wie die Zahlen zeigen: Von den 21 jungen Erwachsenen hatten 17 den Übergang von der Schule in Ausbildung und Beruf geschafft, fünf studierten, zwei standen kurz vor Studienbeginn.

Lösungen

„Wenn die Geldnot das größte Problem ist, dann muss für ein besseres Einkommen gesorgt werden. Eines, das für den Lebensunterhalt ausreicht“, lautet eine Empfehlung der Studie. Und: Wenn zu der einen Schwierigkeit noch weitere hinzukommen, muss die Hilfe besser ineinandergreifen. „Wir sind in Niedersachsen auf einem guten Weg, aber es gibt noch Luft nach oben“, konstatierte Tobias Henkel von der Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz. Auch Norbert Velten stellte fest, dass „Armut eine viel tiefere Dimension hat, als in Politik und Gesellschaft wahrgenommen wird.“ Die Sensibilisierung dafür sei eine der Zukunftsaufgaben der Wohlfahrtsverbände.

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