Von Maria Lüer, 21.04.2017.
Helmstedt. Es sind Bilder, die sich einbrennen ins Gehirn. Schuhe, die am Eingang eines Zimmers zurückgelassen wurden und in die gleich jemand hineinschlüpfen könnte. Verlassene Wohnungen, verwitterte Schulbücher in den Klassenzimmern, ein ausgetrocknetes Schwimmbecken. Ein Auto, das vollgepackt und abreisebereit ist. Doch auf den Straßen fahren keine Autos, es laufen auch keine Menschen herum.
Die Aufnahmen von Silvia Hirth aus der ukrainischen Stadt Prypjat, die 1970 im Zusammenhang mit dem Bau des Kernkraftwerks Tschernobyl gegründet und infolge des Reaktorunglücks vom 26. April 1986 geräumt wurde, sind von gespenstischer Schönheit. „Ich war damals zehn Jahre alt, als sich die Nuklearkatastrophe in Block vier des Kernkraftwerks Tschernobyl ereignete“, erzählt die Fotografin. „Wer mich kennt, der weiß, dass ich mich hauptsächlich mit der Tierfotografie beschäftige. Doch ebenso berühren mich ’Lost Places‘ – es war klar, dass ich Tschernobyl irgendwann einmal fotografisch erkunden wollte.“
Gesagt, getan: Anfang April machte sich die abenteuerlustige Helmstedterin auf die Reise – das mulmige Gefühl immer im Gepäck. „Da ist dieser Feind, den du nicht siehst, hörst oder riechst. Die erhöhte Strahlungsgefahr war immer präsent“, berichtet Hirth. Man müsse sich allerdings ziemlich blöd anstellen, um heute in Tschernobyl kontaminiert zu werden, wie der Tourguide der Reisegruppe anfangs gleich mitteilte. Der Trip sei sicher, wenn man einige Regeln einhalte: den Körper mit Kleidung bedeckt halten, den Geigerzähler, der die Strahlung misst, immer im Blick haben, nicht alles anfassen oder gar etwas mitnehmen.
Mit ihrer siebenköpfigen Reisegruppe erkundete Hirth die Zone rund um das Kraftwerk: Dörfer, Kolchosen, Schrottplätze, Fabriken. „Die Orte wirken auf den ersten Blick friedlich und verwunschen. Das fotografische Auge findet keine Ruhe, die Motivklingel läutet unentwegt“, erzählt die 40-Jährige. Tauche der Blick jedoch tiefer in die Szenerie ein, werde einem das Grauen von damals bewusst: In einem Bürogebäude hängt ein Kalender von 1986. Auf dem Schrottplatz befindet sich ein Teil der Busse, mit denen damals 50 000 Menschen innerhalb von zwei Stunden evakuiert wurden.
„Das alles zu sehen und zu fotografieren hat mich sehr bewegt“, sagt Hirth. Kaum zu fassen wäre für sie jedoch der Anblick des Liquidatoren-Denkmals gewesen, das Verwandte und Angehörige für die Männer, die an den Aufräumarbeiten am Atomkraftwerk beteiligt waren, errichteten. „Die Helfer ließen ihr Leben – und retteten damit die Welt“, erzählt Hirth sichtlich berührt.
Vor allem ein Motiv in Prypjat erlangte traurige Berühmtheit und gilt als eines der eindrücklichsten Mahnmale für die nukleare Katastrophe: Nur vier Tage nach dem Unglück sollte eine Kirmes anlässlich des Maifeiertages eröffnet werden – das Riesenrad überragt noch heute die Geisterstadt. Selbst das Kassenhäuschen steht noch, verrostet und windschief. „Du stehst vor diesem Riesenrad, hörst wie es im Wind quietscht – ansonsten ringsherum absolute Stille. Unheimlich, ich kam mir wie im Horrorfilm vor“, macht Hirth deutlich.
Ironischerweise sei diese Stille, ja geradezu diese Friedlichkeit für das Unglücksgebiet auch ganz besonders bezeichnend. „Obwohl sich hier eine der verheerendsten Katastrophen der Menschheit abgespielt hat, ergreift die Natur immer mehr Besitz von der Stadt“, betont Hirth. „Bäume brechen durch Häuserböden, wachsen durch Fenster, Gestrüpp wuchert die Wege zu, Moos asphaltiert Treppen und Häusereingänge. Alles ist wunderschön und idyllisch.“
Auch wenn Hirth ihren Ausflug in das Katastrophengebiet als „emotionalen Höllentrip“ bezeichnet, bereut hat sie die Entscheidung nicht. „Es war eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Und wenn ich mir meine Bilder anschaue, dann bekomme ich immer noch Gänsehaut“, sagt sie. „Trotzdem bin ich froh, diese Grenzerfahrung gemacht zu haben.“ Auf die Frage, wohin die nächste gefährliche Reise gehe, zuckt Hirth gleichwohl mit den Schultern: „Abenteuer hatte ich erst einmal genug – demnächst werde ich wohl wieder ’nur’ Tiere fotografieren“, lacht sie.
Am Ende bleibt die Frage: Wie unterscheidet sich die Reise nach Tschernobyl vom schnöden Katastrophen-Tourismus? „Kaum anderswo kann man so viel über die Fehlbarkeit des Menschen lernen wie hier“, meint Hirth. Man solle sich die Strahlenzone nicht wie einen Abenteuerspielplatz vorstellen, sondern eher wie eine Gedenkstätte. Auch dort könne man aus der Vergangenheit lernen, um Fehler für die Zukunft zu vermeiden. Und wenigstens das sind wir Tschernobyl schuldig.