Braunschweig. Sie ist erst die zweite Frau nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, die sich über die Ehrenbürgerschaft der Stadt freuen kann. In dieser Woche erhielt Renate Wagner-Redding den Brief, mit der ihre Leistung als Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, aber auch ihre unermüdliche Arbeit für eine Verständigung zwischen Juden, Christen und Muslimen und gegen Rassismus, Antisemitismus und Diskriminierung gewürdigt wird.
„Ich bin stolz darauf, dass Sie nun Ehrenbürgerin der Stadt sind“, sagte Oberbürgermeister Dr. Thorsten Kornblum beim Festakt im Lichthof des Städtischen Museums bewegt. Er hatte die 76-Jährige im September dem Rat für die Ehrung vorgeschlagen. Wir haben uns mit Renate Wagner-Redding über die Gemeinde und ihre Arbeit unterhalten.
Bewegt sei sie gewesen und auch ein bisschen stolz. „Als Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde stehe ich ja öfters im Licht der Öffentlichkeit, aber hier ging es um mich als Mensch. Das ist schon etwas Besonderes“. Renate Wagner-Redding sitzt an einem Tisch und dreht in Gedanken an ihrer Kaffeetasse.
Seit 30 Jahren ist die 76-Jährige Vorsitzende der Gemeinde. 2016 war die NB schon einmal zu Gast in der Synagoge in der Steinstraße – damals feierte die Gemeinde das zehnjährige Jubiläum des Neubaus. Mitten in der Flüchtlingskrise, mitten im Zustrom muslimischer Menschen, „die den Antisemitismus praktisch mit der Muttermilch aufsaugen“, sah Wagner-Redding die damalige Entwicklung mit Sorge. Eine herausfordernde Zeit also. Aber an Herausforderungen ist Wagner-Redding gewöhnt.

„Mit der Auflösung der Sowjetunion strömten viele jüdische Kontingent-Flüchtlinge aus den GUS-Staaten, also aus Russland, Weißrussland und der Ukraine nach Deutschland und später auch nach Braunschweig“, erinnert sich die gebürtige Hannoveranerin an die Zeit nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. In diesen Jahren wuchs die Braunschweiger Gemeinde von 80 auf 200 Mitglieder an. „Viele kamen aus einer ganz anderen Kultur, sprachen kein Wort Deutsch, brauchten Hilfe, um überhaupt Fuß zu fassen“, erzählt Wagner-Redding über die erste Annäherung.
Auch von den Riten hatten viele – da sie in einem atheistischen Staat aufgewachsen waren – keine Ahnung. In den Monaten danach brachte die Gemeinde ihnen deshalb erst einmal das ABC des Judentums bei. Wie Wagner-Redding überhaupt immer wieder erklären muss, was Judentum bedeutet, welche Rolle Juden in der Geschichte der Stadt und in Deutschland spielen. „Sie sehen gar nicht aus wie eine Jüdin“, staunte eine Schülerin anlässlich einer Führung. „Wie sehen denn Juden aus?“, fragte Wagner-Redding interessiert. „Na, sie haben eine Hakennase und angewachsene Ohrläppchen.“ Es gibt Tage wie diese, da muss die 76-Jährige innerlich langsam bis drei zählen und tief durchatmen. „Woher haben Jugendliche diese Stereotype? Von den Eltern? Aus dem Netz?“, greift sie sich an den Kopf.
Corona hat die Lage nicht verbessert. In den vergangenen zwei Jahren wurde von Verschwörungstheoretikern die krudesten Ideen in die Welt gesetzt. Manche vermuteten hinter der Pandemie einen „großen Plan“, mit dem jüdische Bankiers eine Weltregierung durchsetzen oder die Menschen zwingen wollten, sich impfen zu lassen, weil sie finanziell davon profitierten.
Haben die Leute nichts gelernt? „Manchmal bin ich müde“, soll Ignaz Bubis, Vorsitzender des Zentralrats der Juden, kurz vor seinem Tod gesagt haben. Renate Wagner-Redding muss manchmal an ihn denken, wenn sie Zweifel überkommen, ob die ganze Arbeit Sinn macht, ob der Kampf gegen Vorurteile nicht doch ein Kampf gegen Windmühlenflügel ist.
Und doch gibt sie nicht auf. Gerade jetzt ist in der Gemeinde wieder Unterstützung gefragt. Die Hälfte der Mitglieder ist über 60 Jahre alt, viele haben als einstige GUS-Bürger keine hohen Renten, „die haben aktuell in der Energie-Krise ganz schön zu knapsen“, sagt Wagner-Redding. Aber die Synagoge war immer schon mehr als ein Gebetshaus. „Wir sind Arbeitsamt, Sozialamt und Beratungsstelle in einem“, sagt Wagner-Redding und schmunzelt.