„Ich bin wahrscheinlich der Mensch, der weltweit die meisten Leichen gesehen hat“, beschreibt Professor Klaus Püschel (71) seine Profession.
Der frühere Direktor des Instituts für Rechtsmedizin am Uni-Klinikum Hamburg-Eppendorf half mit, viele spektakuläre Verbrechen aufzuklären. Am 14. April ist er Gast beim 2. Live-Crime-Podcast „Tatort Niedersachsen“ (Forum Medienhaus, Beginn 19 Uhr, Karten unter 0531/1 66 06 oder www.konzerkasse.de).
Herr Püschel, nehmen Sie uns an die Hand zu Ihrem Arbeitsplatz.
Die Hamburger Rechtsmedizin ist die mit dem höchsten Leichenaufkommen in Deutschland. Grundsätzlich werden alle ungeklärten und nicht-natürlichen Todesfälle in Hamburg durch Rechtsmediziner einer äußeren Leichenschau unterzogen. Wir sind Profis und sehr gut im Aufdecken von Tötungsdelikten. In anderen Bundesländern übernehmen Haus- oder Bereitschaftsärzte die Leichenschau, oft eine unbeliebte Aufgabe.
Als Rechtsmediziner müssen Sie bei der Arbeit Ihre Emotionen ausblenden. Was ist mit Ihren Sinnen?
Wenn ich eine Leiche untersuche, geschieht dies unter Einsatz aller Sinne. Die darf ich nicht beeinträchtigen, etwa mit Menthol unter der Nase. Bestimmte Vergiftungen haben charakteristische Gerüche, zum Beispiel Bittermandel bei Zyankali. Auch im Zusammenhang mit verschiedenen Stadien von Leichenfäulnis spielen Gerüche eine Rolle. Das Gehör ist ebenso wichtig. Beim Aufschneiden macht Lungengewebe unterschiedliche Geräusche, je nachdem wie der Luftgehalt darin ist. Tasten und Erfühlen ist wichtig, um Fremdkörper im Körper zu entdecken.
Gibt es auch schöne Leichen?
Es gibt Menschen, deren Gesichtszüge im Tod ich als ernsthaft, ruhig oder geradezu erhaben empfinde. Andere Personen schminkten sich vor ihrem Tod ganz sorgfältig. Das kann übrigens ein Hinweis auf Suizid sein.
Wie wichtig ist Erfahrung bei dem, was Sie tun?
Alte Menschen wie ich neigen dazu, auf Erfahrung zu pochen. In der Rechtsmedizin ist die tatsächlich wichtig, denn unser Spektrum von Befunden und Phänomenen ist breiter als in allen anderen medizinischen Berufen. Wir untersuchen höchst unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Verletzungen in unterschiedlichen Szenerien. Die Sektionstechnik kann man lernen. Erfahrung hilft, bei ungewöhnlichen Todesumständen die richtigen Antworten zu finden. Die äußere Leichenschau an einem Tatort gibt oft nur einen sehr begrenzten Einblick in das, was im Körper passiert ist. Häufig liegt die Haut wie ein Deckmantel über schwersten inneren Verletzungen.
In Ihrer Vita finden sich mehrere Fälle, die für Bestürzung und Schlagzeilen gleichermaßen gesorgt haben. Kinder, die Opfer grauenhafter Vernachlässigung oder Gewalt geworden sind.
Diese Fälle waren allesamt Chefsache. Die Leichen haben wir am Institut sehr sorgfältig untersucht und über die Art der Gewaltanwendung oder Vernachlässigung öffentlich berichtet. Darum wurden diese Fälle so bekannt, aber auch, weil im Anschluss öffentlich diskutiert wurde, welche Fehler Eltern oder die Behörden gemacht haben könnten und wie man gegensteuern müsste. Von den Toten lernen wir fürs Leben.
Wenn Sie nach Braunschweig zum 2. Live-Crime-Podcast kommen, sprechen wir über den mutmaßlichen Serienmörder Kurt-Werner Wichmann. In seinem Fall sezierten Sie keine Leiche, sondern gemeinsam mit altgedienten Experten alte Akten.
1989 verschwand Birgit Meier aus dem Kreis Lüneburg. Ihr Bruder war Wolfgang Sielaff, der frühere Hamburger LKA-Chef, ein herausragender Kriminalist. Er war überzeugt, dass seine Schwester getötet worden war. Die Lüneburger Polizei wehrte sich aber lange gegen Ermittlungen. 1993 kam es doch zu einer Durchsuchung bei Wichmann. In seinem Haus wurden ein schallisolierter Geheimraum, Schuss-, Folter- und Fesselungswerkzeuge entdeckt. Wichmann beging kurz danach Selbstmord. Fast alle diese Asservate wurden danach vernichtet. Unvorstellbar! Ich bin mir sicher: Das waren alles Tatwerkzeuge. Es blieben nur Handschellen übrig, an denen ein Blutstropfen war – viel später kam heraus, das war Blut von Birgit Meier. Sielaff hatte mich und weitere frühere Mitstreiter zusammengetrommelt. Wir haben privat ermittelt, gegraben und konnten den Ort bestimmen, wo Wichmann die Leiche von Birgit Meier verschwinden ließ. Dieser Fall ist ein Beispiel, wie Ermittlungsbehörden versagen können, aber auch, wie man mit Hilfe von Erfahrung und durch systematisches Nachdenken alte Fälle nach Jahrzehnten noch lösen kann.
War Kurt-Werner Wichmann der berüchtigte Göhrde-Mörder?
Ich kenne ein paar Akten und bin fest davon überzeugt, dass Wichmann für zahlreiche weitere Tötungsdelikte im Raum Lüneburg verantwortlich ist. Es spricht außerdem viel dafür, dass er in Süddeutschland, im Bereich Münster oder Elbe-Weser-Raum gemordet hat. Das müsste eine Sonderkommission der Polizei aufarbeiten, aber da wurde noch keine Initiative ergriffen. Die Toten sind zwar tot, doch Mord verjährt nicht. Und es bleiben meist Angehörige und Freunde der Opfer zurück, die angesichts der Ungewissheit regelrecht krank werden. Wir müssen uns bemühen, ihnen Antworten zu geben, oder zumindest zeigen, dass wir mit allen Mitteln versucht haben, einen Fall aufzuklären.