Oberstdorf/Meran. „Allein? Über die Berge? Das würd’ ich nicht machen!“ Energisch stellt die Pensionswirtin die Kaffeekanne auf den Tisch und sieht mich kopfschüttelnd an. Für eine Moment komme ich ins Grübeln: War es doch eine Schnapsidee – diese Alpenüberquerung? Sollte ich lieber abbrechen, bevor ich überhaupt angefangen hatte? Nein, kam nicht in Frage!
Der Traum, einmal zu Fuß von Deutschland nach Italien zu wandern, war schon alt. Wie hatten das die Menschen eigentlich früher gemacht, als es noch kein Flugzeug gab, das für die Strecke München-Mailand gerade einmal eine Stunde braucht. Als man mit eigener Kraft reiste, statt im Turbo drei Länder zu über- und durchqueren und auf 7000 Meter Flughöhe gemütlich ein Sandwich isst?
Abenteuer in neun Etappen
„Nimmst du auch Elefanten mit“, flachste meine Familie, als ich ihr von meinen Hannibal-Plänen erzählte – und schob viele gut gemeinte Ratschläge hinterher („Aber schön aufhören, wenn du nicht mehr kannst“).
Ach, was. Wird schon. An einem Julimorgen bestieg ich abenteuerlustig den Zug Richtung Oberstdorf – auf dem Rücken ein 35-Liter-Rucksack, feste Wanderschuhe an den Füßen, zwei Teleskopstöcke unter dem Arm und genau einmal Wäsche zum Wechseln. Der Plan: Neun Tage Wandern auf dem E 5 vom Allgäu bis Meran, die Übernachtungen in urigen Berghütten oder Pensionen.
Viel zu improvisieren gab es nicht: Der Fernwanderweg ist auf diesem Abschnitt längst komplett durchorganisiert und auch für Leute mit normaler Kondition und ohne Klettererfahrung zu bewältigen. Mit einem Wanderführer in der Hand und vielen Tipps aus dem Internet im Kopf ging’s los. Alleine gehen? Pah, was sollte das Problem sein?
Nur drei Tage später fielen mir die Worte der Oberstdorfer Wirtin wieder ein. Denn: Auf dem E 5 braucht man zwar keine Steigeisen, doch ein Spaziergang ist er trotzdem nicht. Auf 2000 bis 3000 Metern Höhe kann aus der Wanderung schnell eine arge Kraxelei werden. Und dann stellte ich auch noch fest: Ich war nicht wirklich schwindelfrei.
Plötzlich geht nichts mehr
Zwei Etappen lagen zu diesem Zeitpunkt hinter mir, die Strecken zur Kemptener und zur Memminger Hütte gut bewältigt. Rings um mich herum satt-grüne Almwiesen und eine traumhafte Ruhe. So hätte es ewig weitergehen können. Ging es aber nicht.
An diesem Morgen sollte die Strecke von der Memminger Hütte über die Seescharte hinunter in den österreichischen Ort Zams führen. 420 Meter Anstieg, 1900 Meter Abstieg. Noch in der Nacht hatte es heftig geregnet, später sogar geschneit. Vor der Hütte auf mehr als 2000 Meter Höhe waren die Wiesen weiß, Wege und Fels trieften vor Nässe und waren glitschig wie Schmierseife.
Auf den letzten Metern hoch zur Scharte ging plötzlich nichts mehr. Der Rucksack zog, die Teleskopstöcke waren beim Kraxeln ständig im Weg und beim Blick nach unten kroch die Panik hoch. Wie ein Käfer klammerte ich mich an den Fels und kam weder vor noch zurück.
Zum Glück hatte ein Wanderer, der vor mir den Grat hochkletterte und schon fast oben war, meine Nöte bemerkt. „Komm, gib mir eine Hand. Ich ziehe dich hoch“, machte er mir Mut und wuchtete mich anschließend wie einen nassen Sack über die Klippe.
Puh – tief durchatmen. Und Lektion gelernt: In dieser Höhe aus Stein und Eis kann Unerfahrenheit schnell ins Auge gehen. Meine hoch erhobene Nase war jedenfalls vergessen. Für die nächsten Etappen schloss ich mich meinem Retter und seinem Wanderkameraden an und fühlte mich in unserer fröhlichen „Seilschaft“ schnell aufgehoben.
Ankunft in Bella Italia
An der Braunschweiger Hütte trennten sich schließlich unsere Wege. Die beiden Männer wollten nach Bozen und ich bog ab ins Venter Tal, um später über den Similaun-Pass nach Meran hinunter zu gehen. Als ich schließlich bei 30 Grad in Südtirol ankam, waren alle Strapazen vergessen. Und ich um eine Erkenntnis reicher. Denn, wenn die ersten Blasen verheilt und Tempo und Atem in Einklang sind, dann ist Wandern tatsächlich eine der schönsten Arten zu Reisen – vorausgesetzt, man kennt seine Grenzen…